Samstag, 9. September 2023

Altkreis-Tagebuch (62)

 

So nimm denn meine Hände...

"Wir sind nicht zuständig."

Diesen Satz von J. U. aus der Tageswohnung der Diakonie kann ich nicht mehr hören. So reagiert man vielleicht auch nur, wenn sich der Chef seit 2000 Jahren nicht mehr meldet. Laut Bibel hat er damals seinen Sohn auf die Erde geschickt, um seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu verkünden, dass alles, was den Geringsten getan werde, ihm getan werde. 

Bevor dieser bemerkenswerte Mann hingerichtet wurde, sprang nur die Frau des Statthalters Pontius Pilatus für ihn in die Bresche. Sie habe sich umgehört und nichts Schlechtes erfahren, sagte sie laut Bibel zu ihrem Mann, der daraufhin seine Hände in Unschuld wusch und der Ungerechtigkeit seinen Lauf ließ. Später behauptete eine Kirche, die immer mächtiger wurde, sie könne sich auf einen der Jünger des Ermordeten berufe, dem von dem unschuldig gekreuzigten Mann eine besondere Rolle zugewiesen worden sein soll. Das steht allerdings nirgendwo in der Bibel. Außerdem war es nicht Petrus, sondern ein angeblich Spätberufener mit Namen Saulus, der sich Ämter für eine Organisation ausdachte und so den Samen für viele Übel legte

Von anderen Mitarbeiterinnen der Tageswohnung habe ich diesen Satz allerdings noch nicht gehört. Seit gestern gilt - wie berichtet - für einen Psychopathen in der Unterkunft, dass er sich nur noch einen Ausrutscher erlauben darf. Sollte das geschehen, muss I. laut Hausmeister seine Schlüssel wieder abgeben, die er allerdings nie hätte bekommen dürfen, zumal die Polizei und Hausmeister Klaus D. wissen, wie gefährlich er werden kann. Die Polizei hat auch keinerlei Verständnis für die Unterbringung von I. in der Unterkunft. 

Wie er heute Nacht ohne den vergessenen oder nicht ausgehändigten Haustürschlüssel ins Haus gekommen ist, kann ich mir nicht erklären. Kurz vor Mitternacht weckte mich mein polnischer Nachbar, weil sein Zimmerkollege einen Krampfanfall hatte. Ich alarmierte das Deutsche Rote Kreuz, das erstaunlich schnell da war. Der Zimmerkollege des Polen wurde untersucht. In Lebensgefahr schwebte er nicht. 

"Sie müssen sich keine Sorgen machen", sagte einer der Sanitäter zu mir. 

Zu jener Zeit war der Psychopath noch nicht in der Unterkunft und seit 22 Uhr hätte er das Haus ohne Haustürschlüssel auch nicht mehr betreten dürfen. Von 22 bis 6 Uhr hat Nachtruhe zu herrschen. So steht es in der Hausordnung. Als ich heute Morgen mein Zimmer verließ, saß der Psychopath bei offener Tür im Gemeinschaftsraum. Er schwang seine Fäuste und knallte seine Faust auf den Tisch. Ich verließ das Haus und sprach Hausmeister Klaus D. auf seinen Anrufbeantworter. Am meisten Angst habe ich um das verlorene Mädchen, das gar nicht in der Lage ist, die Gefahr einzuschätzen, die es im Obdachlosenheim erst gibt, seit das Ordnungsamt und die sozialen Dienste von Burgdorf daraus eine psychiatrische Klinik gemacht haben. 

"Die müssen doch einen Notdienst haben", meinte vor gut einer Woche ein Polizeibeamter mir gegenüber, der wegen eines Diebstahls mit einer Kollegin in der Unterkunft war. 

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